Mitgefühl

May 16, 2024

Mitgefühl als befreiende Kraft

Jeder Augenblick eures täglichen Lebens kann ein Augenblick der Übung sein. Ob ihr auf euer Essen wartet oder euch zur Anwesenheitskontrolle auf- stellt, ihr könnt immer achtsam ein- und ausatmen und lächeln. Verschwendet keinen Augenblick eures täglichen Lebens. Jeder Augenblick ist eine Gelegenheit, eure Stärke, euren Frieden und eure Freude zu kultivieren. Und bereits nach einigen Tagen kontinuierlicher Übung werdet ihr feststel- len können, dass auch andere Menschen von eurer Gegenwart profitieren. Eure Gegenwart kann die Gegenwart eines Bodhisattva sein, eines Heiligen. Es ist möglich.

Im Alter von etwa sieben Jahren las ich eine so genannte Jataka-Geschichte, das bedeutet eine Geschichte über die früheren Leben, die früheren Inkarnationen, des Buddha. Diese Geschichte handelte von einem der früheren Leben des Buddha, das er in der Hölle verbrachte. Der Wär- ter, der dort die Insassen beaufsichtigte, schien keinerlei Mitgefühl zu haben. Er trug immer eine große Mistgabel mit sich, und jedes Mal, wenn jemand einen Fehler machte, stieß der Wärter ihm

die Mistgabel in die Brust. Obwohl die Insassen durch diese Behandlung sehr litten, konnten sie nicht sterben. Dies war ihre Strafe; sie erlitten große Schmerzen, aber sie starben nicht.

Eines Tages wurden die Insassen gezwungen, schwere Lasten auf ihrem Rücken zu schleppen, während der Wärter sie, mit seiner Mistgabel in der Hand, zur Eile antrieb. Die frühere Inkarna- tion des Buddha sah, dass der Wärter einem Insas- sen, der aus Erschöpfung nicht mehr mithalten konnte, bereits mit seiner Mistgabel drohte. In diesem Augenblick wurde in dem früheren Leben des Buddha etwas geboren. Spontan wollte er dazwischentreten, obwohl er wusste, dass sich das Folterinstrument des Wärters dann unweigerlich auf ihn selbst richten würde. Hätte dieses Ein- schreiten seinen eigenen Tod zur Folge gehabt, er hätte ihn bereitwillig hingenommen. Aber die Bestrafung, die er zu erwarten hatte, würde nicht zu seinem Tod führen, sondern nur zu noch mehr Leiden. Trotzdem stellte er sich mutig dem Wärter in den Weg und sprach: »Hast du kein Herz? Warum lässt du ihm nicht die Zeit, die er braucht, um seine Last zu bewegen?« Sowie er diese Worte hörte, stieß der Wärter seine Mistgabel in die Brust der früheren Inkarnation des Buddha, der umgehend starb und erneut als ein menschliches Wesen wiedergeboren wurde.

Die frühere Inkarnation des Buddha brachte den Mut auf, sich zu erheben und dem Wärter direkt ins Auge zu blicken, um so seinem Mit- insassen einen Freundesdienst zu erweisen. Indem er das immense Unrecht wahrnahm, das sich in seiner Umgebung manifestierte als Folge dieses großen Leidens, wurde Mitgefühl in seinem Her- zen geboren. Sein tapferes Einschreiten erwuchs aus Mitgefühl, und dieses Mitgefühl war die Ursache, weshalb er sofort starb und als ein menschliches Wesen wiedergeboren wurde. Von diesem Moment an praktizierte die frühere Inkar- nation des Buddha die Übung der Achtsamkeit, bis sie schließlich zu einem vollständig erleuchte- ten Menschen wurde, einem Buddha. Auch der Buddha hat also, in einem seiner früheren Leben, den tiefsten Abgrund des Leidens erfahren. Doch dank des großen Mitgefühls, dass in seinem Her- zen geboren wurde, vermochte er sich aus dieser Situation zu befreien.

Auch ich habe schon viele Leiden durchlebt und kann euch aus eigener Erfahrung sagen, dass Mit- gefühl euch aus den schwierigsten Situationen zu befreien vermag. Die Energie des Mitgefühls kann uns auch in schwierigsten Situationen einen Ausweg öffnen. Es gab eine Zeit, da wir in der Absicht, den so genannten Boat-People, Kriegsflüchtlingen aus Vietnam, zu helfen, mit Rettungsbooten in den Golf von Siam (Alter Name für Thailand- Anm. des Übersetzers) aufbrachen. Die vielen gewaltbereiten Piraten in dieser Region machten diese Arbeit auch für uns selbst sehr gefährlich. Im festen Vertrauen jedoch, dass Mitgefühl und nicht Gewalt das beste Mittel ist, uns selbst zu schützen, hatten wir niemals Waffen an Bord - wir hatten nur Mitgefühl. Nach der Lehre und der Praxis, denen ich vertraue, ist Mitgefühl das beste Mittel, um sich selbst zu schützen.

In unserer buddhistischen Tradition wird diese schützende Energie durch Avalokiteshvara verkör- pert, den Bodhisattva des tiefen Mitgefühls und des tiefen Zuhörens. Der Bodhisattva kann sich als Frau, Mann, Kind, Politiker oder Sklave manife- stieren, doch sein wesentlicher Charakterzug ist immer der gleiche - die Gegenwart von Mitgefühl in seinem oder in ihrem Herzen. Einst manife- stierte sich Avalokiteshvara als ein hungriger Geist mit einer furchtbar bitteren Miene. Obwohl er in Wirklichkeit ein sehr mitfühlendes Wesen war, nahm er diese Gestalt eines hungrigen Geistes an, um anderen hungrigen Geistern zu helfen. Weil viele von uns Angst haben, Opfer von Angriffen zu werden, suchen wir vielleicht unser tiefes Bedürf- nis, Verständnis und Mitgefühl mit anderen zu tei- len, hinter einer »coolen<«<, einer harten und herzlo- sen Miene zu verbergen. Doch indem wir so, aus vermeintlichem Selbstschutz, den Ausdruck von Mitgefühl blockieren, vermehren wir sowohl unser eigenes Leiden wie auch das Leiden der Menschen in unserer Umgebung. Wenn wir uns dagegen darum bemühen, mitfühlend zu handeln, können wir jederzeit zu anderen menschlichen Wesen in positiver Weise Verbindung aufnehmen, und ihnen helfen, weniger zu leiden.

Sind wir von der Energie des Mitgefühls erfüllt, leben wir in der sichersten aller Umgebungen. Mitgefühl kann sich in unserem Blick ausdrücken, in der Art, wie wir gehen, sitzen, essen, oder wie wir mit anderen Menschen umgehen. Die Energie des Mitgefühls kann auch ansteckend wirken. Es ist wundervoll, in der Nähe eines Menschen zu sein, der Mitgefühl in seinem Herzen hat. Ist euer Herz voller Mitgefühl, werdet ihr einen echten Freund, eine wahre Freundin oder auch mehrere echte Freunde für euch gewinnen können - denn wir alle brauchen Mitgefühl und Liebe. Zwei Men- schen, die einander mit echtem Mitgefühl begeg- nen, schützen sich nicht nur selbst, sondern auch die Menschen in ihrer Umgebung.

Unsere Übung besteht ganz wesentlich darin, Mitgefühl in unserem täglichen Leben zu kultivie- ren. Dabei öffnen wir uns erst einem Menschen, dann einem weiteren, und schließlich wird, in der Gegenwart von Mitgefühl, jeder Ort zu einem schönen Ort, an dem wir glücklich leben können. Wenn wir das Element Freude in unseren Körper und in unser Bewusstsein hineinlassen, finden wir gemeinsam Frieden und Glück, genau hier, genau jetzt.

Thich Nhat Hahn